Was unterscheidet den Erfahrbaren Atem von anderen Atem-Ansätzen?
Beispiel: Atmen im Yoga (westliches Verständnis / Ausübungsform)
Zentrale, leitende Gedanken beim Yoga gehen in die Richtung „Lenke den Atem und darüber auch den Geist“. Bestimmte Leitsätze lenken den Fokus dort häufig auf einen sehr langen Ein- und Ausatem. Gleichzeitig wird kontrolliert in bestimmte Bereiche des Körpers hinein geatmet. Der Atem wird also zweckgebunden dorthin gelenkt, wo er wirken soll.[1] Die Übungsanleitungen sind vielmals in einer konkret steuernden Form formuliert: „Bhastrika startet mit einem kräftigen Luftausstoß durch die Nase. Der Bauch zieht sich dabei aktiv nach innen. Dann folgt eine genauso kräftige Einatmung durch die Nase und Du drückst den Bauch wieder heraus. Versuche möglichst Ein- und Ausatmung gleich lang und gleich intensiv zu lassen. Ca. 1 Sekunde ein und 1 Sekunde aus. Dein Körper bleibt dabei möglichst ruhig und nur der Bauch bewegt sich. Beginne mit der Anzahl von 10 Atemzügen und mache dann eine Pause, in der Du ganz normal atmest und spürst wie Dein Körper darauf reagiert. Anschließend starte eine zweite Runde. Mit ein wenig Übung kannst Du die Anzahl der Atemzüge und die Runden erhöhen.“[2]
Im Gegensatz dazu geht es beim Ansatz des Erfahrbaren Atems um das bewusste Empfinden doch in keinster Weise das Steuern des Atems. Einer der Kernsätze ist:
„Wir lassen den Atem kommen, wir lassen ihn gehen und warten, bis er von selbst wiederkommt.“[3]
Dieses Prinzip gilt beim eigenen Arbeiten / Üben genauso wie beim Anleiten von Gruppen oder in der Einzelbehandlung.
Das in vielen Disziplinen vorherrschende kontrollierte Durchführen von Atemübungen (in einer Art Atem und Bewegung) ist meist durchaus wirkungsvoll. Es kann jedoch gleichzeitig im schlimmsten Fall gesundheitliche Nebenwirkungen haben, wie z.B. eine Hyperventilationstetanie, d.h. Krampfzustände in Gesicht und Händen und / oder Symptomen wie Kopfschmerzen, Schwindel, Benommenheit und auch Sehstörungen durch zu schnelles Ein- und Ausatmen.[4]
Darüber hinaus ist es hilfreich, sich bewusst zu machen, dass das willentlich geplante und mit der Übung zu erzielende gewünschte Ergebnis nicht unbedingt das ist, was die Übende in diesem Moment braucht, im Sinne von, was für ihr Sein gerade passend ist. Es besteht somit das Risiko, dass das, was durch eine gesteuerte Atem-Übung ausgelöst wird und ins Bewusstsein kommt, nicht vom Selbst gesund integriert werden kann. Der Erfahrbare Atem setzt dagegen in einer tieferen Schicht an.
Herangehensweise des Erfahrbaren Atems
Wir sind hochkomplexe Wesen und nur unser Geist alleine weiß häufig nicht, was für das ganze System Lebewesen am besten wäre. Er deckt nur eine Perspektive ab und ist meist nicht ganz so flexibel, was seine Denkmuster angeht. Zu versuchen aus diesen Mustern nur mit dem eigenen Geist auszubrechen, ist demgemäß zumeist müßig.
Hinzukommt, dass steuernde Übungsanleitungen - besonders bei sogenannten „Kopfmenschen“ - zu sehr den Geist bemühen. Teilweise sind die Anleitung und Stellungen im Yoga und anderen Übungsformen, z.B. Qi Gong, so kompliziert, dass Menschen den Fokus auf das richtig machen legen. Viele versuchen einfach nur der „Vorturnenden“ alles genau gleich nachzumachen. Das Ziel ist z.B., irgendwann die Stellung Kopfstand zu können. Der Anreizmechanismus ist das Sichtbare, die Form als Heilungsversprechen. Solche Übungsstile bergen das Risiko, dass das Erfahren an sich in den Hintergrund rückt und nicht beachtet wird. Dabei macht es einen Großteil der positiven Wirkung des Übens und der eigenen Weiterentwicklung aus, so auch beim Erfahrbaren Atem.
Die Methode des Erfahrbaren Atems basiert auf Balance und der Erkenntnis, dass jeder Mensch Experte für sich selbst ist. Gleichzeitig haben sich auf dem Erfahrungsweg allgemeingültige Atemgesetze offenbart. Dies ermöglicht Atemtherapeutinnen einen sinnvollen Ablauf von Übungen anzuleiten und stimmige Impulse im Rahmen von Einzelbehandlungen oder der Gruppenarbeit zu setzen. Dabei begegnen sich Atemtherapeutin und Klientinnen auf Augenhöhe. Ich weiß nicht, was das Beste für meine Klientin ist. Ihr Atem gibt mir Hinweise, welche Impulse ihn vielleicht unterstützen könnten. Jeder für sich spürt, was tut mir gut, was nicht.
In der Arbeit des Erfahrbaren Atems ist es daher nicht maßgebend, vorzugeben 10x schnell durch die Nase einzuatmen, den Ausatem langzuziehen und dann 2x in den Bauch zu atmen. Falls überhaupt eine Anzahl der Übungsdurchläufe genannt wird, erfolgt die Anleitung eher im Sinne von „nicht mehr als n-Mal“ oder „ungefähr 3-4 Mal“, „jeder in seinem Tempo“, „achtet darauf, was euch gut tut“. „Wenn etwas anstrengend ist, verändert etwas.“
Besonders in der Anfangsphase spielt dies eine zentrale Rolle, denn in dieser geht es vor allem auch darum, zu lernen, den Atem nur wahrzunehmen und nicht zu steuern. D.h. ihn zu beobachten, zu empfinden und dabei von alleine kommen und gehen zu lassen, sodass der Atem und sein Wirken erfahren werden kann.
[1] Vgl. E. Zechner, Themenschwerpunkt Atemlehren. Der mittlere Weg - zwischen unbewusstem Atemgeschehen und Atemlenkung, YOGA Info, 3.2006 [2] Diana Yoga, Übungsanleitung zum Feueratem [3] Vgl. I. Middendorf, Der Erfahrbare Atem, Paderborn 2007, S. 27 [4] Vgl. U./R. Derbolowsky, Atem ist Leben, Germering 2005, S.30 oder auch https://www.netdoktor.de/symptome/hyperventilation