Entwicklungsgeschichte des Erfahrbaren Atems
In der gesamten Weltgeschichte lassen sich schon seit Jahrtausenden Hinweise auf die Heilkraft und die zentrale, häufig auch spirituelle Bedeutung des Atems finden. So galt z.B. im alten Ägypten der Atem als wichtigstes Heilmittel. Er wurde auch das „Heilmittel der Könige“ genannt.[1] Auch die Griechen und viele östliche Kulturen sahen im Atem etwas Göttliches. So bezeichnet z.B. im Sanskrit „Atman oder Atma“ das Selbst, die unzerstörbare, ewige Essenz des Geistes. Gleichzeitig wird es auch häufig als Seele, das Selbst, das Wesen, die Natur übersetzt.[2] In der heutigen Zeit spiegelt sich dieses uralte Wissen auch manchmal noch in Volksweisheiten wieder, wenn z.B. über Wunden gehaucht wird.
Der Ansatz des Erfahrbaren Atems hat seine Wurzeln zum einen in der ausgeprägten Erfahrungswissenschaft von Ilse Middendorf selbst, der sie ab ihrem 11. Lebensjahr bis zu ihrem Tod mit 98 Jahren nachging.[3] Zum anderen beschäftigte sie sich viel mit den alten östlichen Weisheiten und reiste häufig. Gleichzeitig bezog sie Impulse von Persönlichkeiten ihrer Gegenwart oder der nahen Vergangenheit, welche die Atemgeschichte deutlich mit prägten. Dabei gab es zwei zentrale Strömungen: Die hin zu einem neuen Körperbewusstsein sowie die atempsychologische Richtung. C.G. Jung, Gustav Heyer, Cornelis Veening, Margarethe Meh sowie Karlfried Graf Dürckheim gestalteten maßgeblich die atempsychologische Betrachtungsebene, wobei Cornelis Veening ein direkter, jahrelanger Lehrer von Ilse Middendorf war. Clara Schlaffhorst und Hedwig Andersen positionierten den Atem als ganzheitlichen Ansatz für Atem- und Stimmlehrer. Für ein neues Körperbewusstsein um die 19. Jahrhundertwende war die prägende Person Turnvater Jahn, der eine regelrechte Massenbewegung auslöste. Weitere zentrale Charaktere waren im Tanz Palucca, Isidora Duncan, Mary Wigman und Rudolf von Laban. In der Gymnastik Ernst Kallmeyer, Elsa Gindler, Dora Menzler, Bess Mensendieck, Rudolf Bode und Hinrich Medau. Um die Jahrtausendwende entwickelte Maria Höller-Zangenfeind auf Basis des Erfahrbaren Atems ihre Methode Atem-Tonus-Ton. Die Methode hat die Stimme im Fokus bzgl. der Wirkung des zugelassenen Atems und eines Eutonus auf den vokalen und instrumentalen Ton.
In der heutigen Zeit formen in Deutschland Veronika und Helge Langguth, meine Ausbilderin Brigitte Wellner-Pricelius, Ingrid White und Susanne Sorgenfrei wesentlich den Weg des Erfahrbaren Atems und geben ihr Wissen und ihre Erfahrungen in ihren Ausbildungsinstituten an zukünftige Atemtherapeutinnen weiter.
[1] Vgl. U./R. Derbolowsky, Atem ist Leben, Germering 2005, S.26 [2] Vgl. P. Olivelle, Upanisads, New York, 1996 [3] Ilse Middendorf, geboren 21. September 1910, gestorben 2. Mai 2009.